Ergänzende Informationen: Geschichte hörbar machen
Geschichte hörbar machen – Gedenkkonzert zum 77. Tag der Befreiung des KZ Dachau
So unterschiedlich die Werke des Konzerts scheinen, so durchzieht sie dennoch ein gemeinsamer roter Faden: Sie alle sind auf das Engste mit den Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft für das jüdische Musikleben in München und Dachau verbunden. Obwohl die herkömmlichen Opern- und Konzertbühnen jüdischen Musikerinnen und Musikern ab 1933 verwehrt blieben und der antisemitische Verfolgungsdruck in der „Hauptstadt der Bewegung“ München besonders massiv war, konnte hier eine Vielzahl musikalischer Initiativen entstehen. Der Jüdische Kulturbund gewährte Musikschaffenden, die aus „rassischen“ Gründen ihre Stellung verloren hatten, und ihrem ausschließlich jüdischen Publikum finanzielle und geistige Unterstützung. Und selbst unter den katastrophalen Bedingungen der Konzentrationslagerhaft in Dachau finden sich stets Belege musikalischer Tätigkeit.
Die Machthaber duldeten diese Aktivitäten, förderten sie bisweilen sogar. Nicht zuletzt versprachen sie sich davon die vollständige Kontrolle und propagandistische Instrumentalisierung der jüdischen Musikschaffenden gegenüber der Kritik aus dem Ausland an den antisemitischen Maßnahmen.
Jüdisches Musikleben unter nationalsozialistischer Herrschaft – ob in den Kulturbünden oder in den Lagern – war deshalb höchst ambivalent: Musik konnte ebenso Mittel der Disziplinierung, Demütigung und Folter sein, wie sie Ablenkung, Tröstung und Durchhaltewillen zu vermitteln vermochte. Es ist diese Geschichte der Ambivalenz zwischen jüdischer Selbstbehauptung und antisemitischer Verfolgung, die die musikalischen Werke des Gedenkkonzerts hörbar machen sollen.
Programm
Walter Braunfels Auf ein Soldatengrab, für Gesang und Klavier
Viktor Ullmann Klaviersonate Nr. 5 (von meiner Jugend), für Klavier solo, daraus: Andante
Paul Ben-Haim Myrtle-Blossoms from Eden, Auszüge
Wolfgang A. Mozart Violinkonzert D-Dur; daraus: 3. Satz
Paul Ben-Haim Berceuse sfaradite, für Violine und Klavier
Emil František Burian Echos tschechischer Tänze (Auswahl), für Klavier solo
Karl Amadeus Hartmann Lamento; daraus: Friede
Ernest Bloch Baal Shem, für Violine und Klavier
Walter Braunfels (1882-1954), Auf ein Soldatengrab op. 26, für Gesang und Klavier
Walter Braunfels wird in Frankfurt geboren und studiert an verschiedenen Musikhochschulen, darunter auch München, Klavier und Komposition. Obwohl sein Vater lange vor seiner Geburt vom Judentum zum Protestantismus konvertiert war, werden Braunfels’ Werke unmittelbar nach der Machtübernahme Hitlers verboten und er selbst aus allen Ämtern entlassen. Er bleibt dennoch in Deutschland, zieht sich aus der Öffentlichkeit zurück und komponiert Werke in der spätromantischen Tradition Richard Wagners, Hans Pfitzners und Richard Strauss’. Das Orchesterlied Auf ein Soldatengrab entsteht 1915, unmittelbar vor seiner Einberufung zum Militärdienst im Ersten Weltkrieg.
Auf ein Soldatengrab
(Text: Hermann Hesse)
Deine hellen Augen sind zugetan,
Dir brach die Nacht schon ein,
Dir brach der neue Weltengang schon an.
Doch du bist mein,
Ob auch die Sonne mir noch Mittag lacht,
Und ich bin dein
Und folge dir wenn meine Zeit vollbracht,
In deine Nacht.
Und aus dem Schoß,
Der dich und mich verschlang
Wächst neu und groß
In ewigem Lebensdrang
Der alten Heimat Geist empor.
Die Jugend wandelt licht in weiten Räumen
Und hört der Ahnen Chor
Als dunklen Quell im heilgen Berge träumen.
Viktor Ullmann (1898-1944), Klaviersonate Nr. 5 (von meiner Jugend); daraus: Andante
Der Komponist Viktor Ullmann stammt aus einer assimilierten jüdischen Familie aus Teschen (Polnisch Cieszyn; damals Österreich-Ungarn). Im September 1942 wird er in das Lager Theresienstadt deportiert. Dort komponiert er eine beträchtliche Zahl von Werken, darunter die Klaviersonate Nr. 5 sowie seine vielleicht bekannteste Schöpfung, die Oper Der Kaiser von Atlantis. Im Lager beteiligt sich Ullmann an den euphemistisch als ‚Freizeitgestaltung‘ bezeichneten Musikaktivitäten und musiziert unter anderem mit der Kontrabassistin Elisabeth Baerlein, die zuvor längere Zeit im Münchner Jüdischen Kulturbund aktiv war. Das anrührende Andante aus der Klaviersonate Nr. 5 (1943) schreibt Ullmann für seine ebenfalls inhaftierte Frau. Beide werden im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Paul Ben-Haim (1897-1984), Myrtle-Blossoms from Eden, Auszüge
Der 1897 in München als Paul Frankenburger geborene Dirigent, Komponist und früherer Schüler der Münchner Musikhochschule emigriert aufgrund massiver antisemitischer Anfeindungen bereits 1933 nach Palästina. Dort ändert er seinen Nachnamen in Ben-Haim („Sohn Heinrichs“) und wird zu einer der einflussreichsten Personen für die Entwicklung eines israelischen Nationalstils. In seiner mehr als 70 Jahre dauernden Karriere schuf er über 250 Werke für nahezu alle Gattungen, darunter eine Vielzahl von Kunstliedern auf Deutsch und Hebräisch, die heute erst langsam wiederentdeckt werden.
At be’in atze’i eden („Blühende Myrte“)
(Text: Yehuda Halevi)
Blühende Myrte aus dem Garten Eden,
Strahl du aus Sternentanzes Silberfäden,
es sandte Gott ein Myrrhenbündel dir,
von IHM gemischt mit Düften der Reseden.
Von einer Taube, die tags in Myrtenzweigen girrt,
den Duft die Myrte stahl, gibt ihn an Jeden.
Sonnenaufgang erbitte nicht von ihr,
auch sie hat nicht von dir den Mond erbeten.
Lied ohne Worte (Vokalise)
Wolfgang A. Mozart (1756-1791), Violinkonzert G-Dur; daraus: 3. Satz
Die Werke Wolfgang A. Mozarts zählen auch im Nationalsozialismus zum festen Konzertrepertoire, obwohl sie wenig zu Joseph Goebbels’ Kunstauffassung einer ‚stählernen Romantik‘ passen. Ebenso werden sie im Rahmen der Jüdischen Kulturbünde regelmäßig aufgeführt und erlauben dem jüdischen Publikum das Anknüpfen an bisherige Hörgewohnheiten. Mit der Annexion Österreichs 1938 wird Mozart als ‚deutscher‘ Komponist von den Nationalsozialisten reklamiert, seine Werke sind fortan für Juden verboten. In den Konzentrationslagern sind jedoch immer wieder Aufführungen dokumentiert: So auch in Dachau, wo während des Krieges das Violinkonzert gespielt wird.
Danielle Lurie, Hipasti Ben-Adam („Ich habe einen Menschen gesucht“), Uraufführung, für Sopran, Bass und Klavier
Die Schriftsteller Yaakov Barzilai und Dan Pagis, deren Texte der Komposition Hipasti Ben-Adam zugrunde liegen, erfahren die Grauen von Lager- und Ghettohaft am eigenen Leib. Danielle Lurie, derzeit Kompositionsstudentin an der Hochschule für Musik und Theater, vertont Texte beider Autoren, in denen sie diese Erfahrungen nach Kriegsende verarbeiten. Hipasti Ben-Adam wurde eigens für das Gedenkkonzert eingerichtet und kommt hier erstmals zur Aufführung.
First Spark
(Nitsots Rishon; Text: Yaakov Barzilai)
On Crystal Night
Numerous candles
danced
the dance of fire.
As their flames were diminishing
in their last flickers
each candle insisted on having firstborn
rights,
on being the first spark
of the fire.
Historical Accuracy
(Divuk History; Text: Yaakov Barzilai)
In an exclusive encyclopaedia
I found a special entry for Auschwitz:
A city that is burning relentlessly
and has no firefighting services.
The Match and the Fire (Hagafrur VeHaesh; Text: Yaakov Barzilai)
He was the match,
we were the fire
and there wasn’t any water
to extinguish us.
During World War Two (Bemilhemet Haolam Hashniya; Text: Yaakov Barzilai)
Again and again
American planes flew over
the smoking chimneys in Auschwitz
dropping smart paper bombs
adorned with especially large letters:
“Where there’s smoke, there’s fire”
Witness
(Edut; Text: Dan Pagis)
No no: they definitely
were human beings: uniforms, boots.
How to explain. They were created in the
image.
I was a shadow
I had a different creator.
And he in his benevolence did not leave
in me anything to die.
And I escaped to him, I went up light,
blue,
placated, I would say apologetic:
smoke to an almighty smoke
that has no body or image.
Paul Ben-Haim (1897-1984), Berceuse sfaradite für Violine und Klavier
Nach der Flucht aus Deutschland im November 1933 lässt sich Paul Ben-Haim von den vielfältigen lokalen Musikkulturen Palästinas inspirieren. Über die Verschmelzung von westeuropäischer Kunstmusik mit östlich-orientalischer Folklore gelangt er zu einem neuen Personalstil, der lange Zeit prägend für die neu entstehende israelische Musik wird. In seiner Berceuse sfaradite (1939) greift er eine Melodie sephardischer Juden auf und verarbeitet sie zu einer Miniatur für Violine und Klavier.
Emil František Burian (1904-1959), Echos tschechischer Tänze für Klavier solo, Auszüge
Der im tschechischen Pilsen geborene Emil František Burian durchlebt eine wahre Odyssee durch das NS-Lagersystem: Zwischen 1940 und 1945 wird er nacheinander in Theresienstadt, Dachau und zuletzt in Neuengamme inhaftiert. Überall beteiligt er sich an kulturellen Veranstaltungen in den Lagern. Nur durch Glück überlebt er kurz vor Kriegsende einen Luftangriff auf das Schiff Cap Arcona, mit dem rund 7.000 Häftlinge aus Neuengamme verlegt werden sollen. Nach dem Krieg gründet er in seiner Heimat mehrere Theater und komponiert entsprechend den Vorgaben des sozialistischen Realismus. Dabei lässt er sich immer wieder von Folklore inspirieren – so auch in seinen Echos tschechischer Tänze von 1954.
Tempo di polka burlescamente
Tempo di valse lente
Karl Amadeus Hartmann (1905-1963), Lamento; daraus: Friede
Karl Amadeus Hartmann, ebenfalls ein Schüler der Münchner Musikhochschule, zählt zwar nicht im engeren Sinne zu den verfolgten Komponisten des Nationalsozialismus. Dennoch zieht er sich ab 1933 in die sogenannte innere Emigration zurück und komponiert nur noch für die Schublade. Seine politisch engagierten Werke zeugen vom Protest gegen die Inhumanität und Gewalt des NS-Regimes: Die Komposition Miserae (1934) widmet er „meinen Freunden, die hundertfach sterben mussten (Dachau, 1933-1934)“. Lamento (1955) ist ein flammendes Plädoyer gegen den Krieg und für den Frieden.
Friede
(Text: Andreas Gryphius)
Zeuch hin, betrübtes Jahr, zeuch hin mit meinen Schmerzen,
Zeuch hin mit meiner Angst und überhäuftem Weh,
Zeuch so viel Leiden nach! Bedrängte Zeit, vergeh
Und führe mit dir weg die Last von diesem Herzen!
Herr, vor dem unser Jahr als ein Geschwätz und Scherzen,
Fällt meine Zeit nicht hin wie ein verschmelzter Schnee?
Laß doch, weil mir die Sonne gleich in der Mittagshöh,
Mich doch nicht untergehn gleich ausgebrannten Kerzen!
Nach Leiden, Leid und Ach und letzt ergrimmten Nöten,
Nachdem auf uns gezückt und eingesteckt das Schwert
Indem der süße Fried ins Vaterland einkehrt;
Und man ein Danklied hört statt rasenden Trompeten.
Bisher sind wir tot gewesen, kann nun Fried ein Leben geben.
Ach so laß uns, Friedenskönig, durch dich froh und friedlich leben,
Wo du Leben uns versprochen!
Herr, es ist genug geschlagen
Angst und Ach genug getragen,
Gib doch nun etwas Frist, daß ich mich recht bedenke.
Gib, daß ich der Handvoll Jahre
Froh werd eins vor meiner Bahre,
Mißgönne mir doch nicht dein liebliches Geschenke.
Friede den Menschen
Friede den Toten Friede den Lebenden
Friede Friede Friede
Ernest Bloch (1880-1959): Baal Shem für Violine und Klavier
Der gebürtige Schweizer Ernest Bloch studiert zwischen 1901 und 1903 an der Münchner Musikhochschule und ist nach dem Ersten Weltkrieg vor allem in den USA aktiv. Sein Hauptanliegen ist die Modernisierung der jüdischen Musik, die für ihn mehr ist als liturgische Praxis oder Folklore. Sein Stil ist gekennzeichnet von melodischen Versatzstücken jüdischer Musik, Anlehnungen an den Sprachrhythmus des Hebräischen und häufigen Tempowechseln. Seine Werke zählen zu den am häufigsten aufgeführten Werken in den Konzerten der Jüdischen Kulturbünde. Auch im Münchner Kulturbund sind seine Kompositionen oft zu hören, darunter die von der chassidischen Gebets- und Musikkultur inspirierte Suite Baal Shem (1923), benannt nach einem der der Mitbegründer des Chassidismus im 18. Jahrhundert, Baal Shem-Tov.
Vidui („Reue“)
Der Satz beschreibt die Beichte und das Sündenbekenntnis im jüdischen Glauben. Die Musik bringt die Reue des Sünders zum Ausdruck, der sich gegen Gott vergangen hat.
Nigun („Melodie“)
Nigun bezeichnet den oft improvisatorischen, weitschweifigen Gesang frommer Juden.
Simchas Torah („Freude der Tora“)