Paul Kerstenne
| 31. Juli 2013
Paul Kerstenne wurde am 26. Dezember 1921 in Ans (Belgien) geboren. Er befand sich in Brüssel, um seine Ausbildung bei einer Versicherungsgesellschaft abzuschließen, als die Deutschen 1940 seine Heimat besetzten. Zusammen mit fünf Kameraden schloss sich Kerstenne dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten an. Die Gruppe plante, über Portugal nach England zu fliehen und sich den britischen Truppen anzuschließen. Doch bei dem Versuch, die Demarkationslinie zu überschreiten, wurde Kerstenne 1942 verhaftet und in verschiedenen französischen und belgischen Gefängnissen gefangen gehalten. Er musste Verhöre und Foltern über sich ergehen lassen, ehe die SS ihn am 27. Februar 1943 in das Konzentrationslager Dachau brachte. Mehrmals entging er nur knapp dem Tod, er erkrankte an Typhus, Halsgeschwüren und Lungenentzündung. Doch dank der Hilfe seiner Mithäftlinge, vor allem seines belgischen Landsmanns Arthur Haulot, konnte er soweit genesen, dass er den Krankenblock wieder verlassen durfte. Im Winter 1944/45 wurde Kerstenne im Kommando Plantage im „Kräutergarten“ eingesetzt. Bis zur Erschöpfung musste er Schnee schaufeln und mit einem einfachen Spaten Felder umgraben. Erneut geriet er an die Grenzen seiner Kräfte, ehe er – dank der Hilfe eines Kapos – in einem anderen Unterkommando beim Pflanzen von Rosenstöcken eingesetzt wurde.
Nach der Befreiung des Konzentrationslagers am 29. April 1945 engagierte sich Kerstenne zusammen mit Charles Baum und Arthur Haulot im internationalen Häftlingskomitee. Doch die Folgen der KZ-Haft holten ihn ein und er erkrankte an Flecktyphus, so dass er erst am 18. Juni 1945 nach Belgien zurückkehren konnte. Den Winter musste er in einer Schweizer Klinik verbringen. Erst Anfang 1946 konnte er in die Schweiz zurückkehren und seine ursprüngliche Arbeit bei der Versicherungsgesellschaft wieder aufnehmen. Als er 1983 in Ruhestand ging, war er zum Generaldirektor des Unternehmens aufgestiegen.
Schon bei der Neugründung des Internationalen Häftlingskomitees im Jahr 1955 zählte Kerstenne zu den ersten Mitgliedern. Als Schatzmeister und Verwalter setzte er sich unermüdlich für die Belange der ehemaligen Häftlinge, die Erinnerung an das Konzentrationslager Dachau und die KZ-Gedenkstätte ein. Als er aus gesundheitlichen Gründen sein Amt im Jahr 2007 niederlegen musste, ernannte ihn das Komitee zum Ehrenschatzmeister.
In Zeitzeugengesprächen berichtete Kerstenne vor allem Jugendlichen über seine Erfahrungen als Widerstandskämpfer und KZ-Häftling. Auf die Frage, welche Bedeutung diese Gespräche für ihn hätten, erklärte er einmal: „Ich war noch ein Jugendlicher, als ich interniert wurde. Das hat meinen Charakter gestärkt. Kurzum, ich bin als ein Erwachsener herausgekommen. Ich habe gelernt, bevor ich jemandem widerspreche, herauszufinden, warum meine Meinung von ihm abweicht. Ich habe eine grenzenlose Liebe zur Freiheit gelernt und die Gewissheit, dass Freiheit nur in einer Demokratie existieren kann.“
In seiner liebenswerten, wohlwollenden, stets positiven Art und durch sein Vermögen, Konflikte konstruktiv zu lösen und gerecht zu vermitteln, bleibt Paul Kerstenne den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der KZ-Gedenkstätte Dachau unvergessen.