Digitales Kuratieren: Visuelle Geschichte des Holocaust

Was bedeutet es, filmisches und anderes Kulturgut von höchster geschichtlicher Brisanz digital zu kuratieren? Der Holocaust ist ein zentraler Bezugspunkt europäischer Geschichte und eine Art „negativer Gründungsmythos“ der Europäischen Integration. Die Frage nach seinen bisherigen Darstellungen und seiner Darstellbarkeit stellt sich im digitalen Zeitalter nochmals neu. Ein Konsortium aus 12 österreichischen, deutschen, israelischen und französischen Forschungseinrichtungen, Museen, Gedenkstätten und Technologieentwicklern wird gemeinsam mit amerikanischen Partnern dazu beispielgebende Konzepte und Anwendungen entwickeln.

Im Projekt „Visual History of the Holocaust: Rethinking Curation in the Digital Age“ („Visuelle Geschichte des Holocaust: Kuratieren im digitalen Zeitalter“), das vom Ludwig Boltzmann Institute for Digital History in enger Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Filmmuseum koordiniert wird, geht es um die Möglichkeiten und Grenzen digitaler Technologien bei der Bewahrung, Erschließung und Vermittlung von Dokumenten zum Holocaust.

 

Im Zentrum des Projekts stehen die raren filmischen Dokumente, die von alliierten Streitkräften in befreiten Konzentrationslagern sowie an anderen Stätten nationalsozialistischer Verbrechen angefertigt wurden. Obwohl sie nur einen bestimmten Aspekt des Holocaust zeigen, haben sie die leere Stelle der fehlenden Bilder besetzt und die Vorstellung vom Holocaust nachhaltig geprägt. Diese auf Archive in den USA, Großbritannien, Russland und anderen früheren Sowjetrepubliken verstreuten Filmdokumente werden erstmals zentral zusammengeführt, nach neuesten Kriterien digitalisiert, analysiert und erschlossen, um sie in weiterer Folge mit Fotografien, Schriftdokumenten, Oral History Interviews mit Überlebenden, Kameraleuten und anderen Zeugen, aber auch mit später produzierten filmischen Werken zu verknüpfen.

Bei der Arbeit mit den Filmen kommen verschiedenste digitale Technologien zum Einsatz, darunter avancierte Digitalisierung, automatische Bild- und Textanalyse, zeitbasierte Annotation und standortbezogene Dienste. Ein Ziel ist die Herstellung neuer Sinnzusammenhänge für die Forschung in Fachgebieten wie Geschichte, Film- und Medienwissenschaft, Cultural Studies und Computerwissenschaft. Darüber hinaus werden neuartige Vermittlungsanwendungen für Gedenkstätten, Museen und Bildungseinrichtungen erprobt. Mehrere Gedenkstätten sind als Partner direkt am Konsortium beteiligt: die KZ‑Gedenkstätte Dachau, die KZ-Gedenkstätte Mauthausen und die Gedenkstätte Bergen-Belsen.

„Das schwierige Thema des Holocaust und seiner visuellen Darstellung ist der Ausgangspunkt für ein Überdenken, was digitales Kuratieren generell bedeutet“, sagt der Projektkoordinator Ingo Zechner, der das Ludwig Boltzmann Institute for Digital History leitet. „Welche digitalen Technologien können und sollen eingesetzt werden? Wie ist Authentizität unter den Bedingungen universeller Manipulierbarkeit digitaler Bilder zu wahren?“

Das Projekt „Visual History of the Holocaust: Rethinking Curation in the Digital Age“ wird im Rahmen des EU-Programms Horizon 2020 als Innovation Action mit rund 5 Mio. Euro gefördert. Es wurde aus 37 Anträgen erstgereiht. Die Projektlaufzeit beträgt vier Jahre mit Start im Januar 2019.

 

Die Aufgaben der KZ-Gedenkstätte Dachau (Stiftung Bayerische Gedenkstätten) innerhalb des Projekts

An der KZ-Gedenkstätte Dachau steht vor allem die Anwendung ortsbezogener digitaler Angebote sowie deren Entwicklung, Umsetzung und Bewertung im Vordergrund. Inwieweit bereichern vor allem Filme, aber auch Fotos, Texte und Tonträger das Erleben der Besucher/-innen vor Ort? Um dieser Frage nachzugehen, werden die Besuchergruppen durch Kuratoren/-innen und Pädagogen/-innen der KZ-Gedenkstätte Dachau über das Gelände geführt und direkt vor Ort gebeten, die digitalen Anwendungen auszuprobieren und zu bewerten. Das anschließende Feedback dient der Verbesserung der Benutzerfreundlichkeit sowie der medialen Aufbereitung der Inhalte. Ausgehend von den eigenen Archivbeständen und dem Fachwissen der Mitarbeiter/-innen unterstützt die Gedenkstätte im Projekt zudem auch die Erforschung, Sammlung, Erschließung und Kommentierung von Film-, Foto- und Textdokumenten.

 

Projektkonsortium

Ludwig Boltzmann Institute for Digital History (Ludwig Boltzmann Gesellschaft) (AT): Coordinator
Austrian Film Museum (AT): Co-Coordinator
TU Wien (AT)
Justus Liebig University Giessen (DE)
The Hebrew University of Jerusalem (IL)
University of Bremen (DE)
Center for Russian, Central European and Caucasian Studies (Centre National de la Recherche Scientifique) (FR)
Dachau Concentration Camp Memorial Site (Stiftung Bayerische Gedenkstätten) (DE)
Bergen-Belsen Memorial (Stiftung niedersächsische Gedenkstätten) (DE)
Mauthausen Memorial (AT)
Deutsches Filminstitut & Filmmuseum (DE)
max.recall information systems GmbH (AT)

Assoziierte Partner:
National Archives and Records Administration (USA)
United States Holocaust Memorial Museum (USA)
Fritz Bauer Institut (DE)

 

Inhaltlicher Kontakt

Dr. Ingo Zechner
Projektkoordinator
Leiter Ludwig Boltzmann Institute for Digital History
Hofburg, Batthyanystiege, Mezzanin, 1010 Wien
Tel. +43-1-890 96 89
ingo.zechner@geschichte.lbg.ac.at
www.lbigg.org

Michael Loebenstein
Stellvertretender Projektkoordinator
Direktor Österreichisches Filmmuseum
Augustinerstraße 1, 1010 Wien
Tel. +43-1-533 70 54-0
m.loebenstein@filmmuseum.at
www.filmmuseum.at

Dr. Stefanie Pilzweger-Steiner
Wissenschaftliche Referentin an der KZ-Gedenkstätte Dachau
Alte Römerstr. 75, 85221 Dachau
Tel. +49 (0) 8131 / 66 99 7-147
pilzweger-steiner@kz-gedenkstaette-dachau.de

 

This project has received funding from the European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme under grant agreement No 822670.

 

Bildnachweis Titelbild: Ein Kameramann des U.S. Army Signal Corps in Dachau, Mai 1945. Aus: [World War II color footage], George Stevens, [Liberation at Dachau] (2. bis 7. Mai 1945). Library of Congress.