Brief von Larissa Kalisch an ihren Großvater

Brief von Larissa Kalisch an ihren Großvater

Enkelin von Eduard und Ruth Kornfeld

 

Der 76. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau, zum ersten Mal ohne meinen Opi

Schon zum 76. Mal jährt sich am 29. April der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau, zum ersten Mal jedoch gedenken wir an diesen Tag ohne Beisein meines Opi’s (Grossvater), dessen Herz am 8. September 2020 zu schlagen aufhörte. Wir erlebten ihn aber als zeitlos, denn sein Lebenswille und Überlebenswille, welche schon mit 14 Jahren in den Konzentrationslagern von Ausschwitz und Dachau auf die Probe gestellt wurden, erschienen uns übermenschlich. Mit 13 Jahren nahm er zusammen mit seinem 15-jährigen Bruder Chaim Abschied von ihren Eltern und Geschwistern, um vor den Nationalsozialistischer Verfolgung nach Ungarn zu flüchten. Dieser Abschied war leider für immer. Im Sommer 1944 wurde er nach Ausschwitz und anschliessend nach Dachau deportiert, wo er durch die Hölle ging! Unzählige Male stand er vor den Selektionen (für die Gaskammern), u. a. solchen von Dr. Mengele, des sogenannten Todesengels. Als er im April 1945 von den Amerikanern befreit wurde, wog er 27 kg und litt an einer schweren Tuberkulose. Er verbrachte acht Jahre im Sanatorium (die letzten vier in Davos in der Schweiz). Nachdem er geheilt war, begann er eine Lehre zum Juwelenfasser.

Die jährlichen Holocaustgedenk- und Befreiungstage sollen uns zum einen daran erinnern, zu welcher Grausamkeit Menschen fähig waren, und zum anderen daran, unter welchem Leid die Opfer litten. Mit dem « Aussterben » der Überlebenden haben wir als Nachkommen die Pflicht, dieses Wissen insbesondere an solchen Gedenktagen weiterzugeben. Diese Jahrestage sind jedoch auch da, um Dankbarkeit gegenüber den Befreiern auszusprechen, welche Millionen Menschen aus der Hölle erlöst haben. Anlässlich des 70. Gedenktages der Befreiung Dachaus hatte ich die Chance mit meinem Grossvater und meiner Mutter am Gedenkanlass teilzunehmen und einzelnen amerikanischen Befreiern mit einem Lächeln meine Dankbarkeit auszudrücken. Im Nachhinein bereue ich, ihnen nicht in Worten für ihren Mut und Nächstenliebe gedankt zu haben. Gerade heute als Psychologin (spezialisiert in positiver Psychologie) weiss ich, wie wichtig es ist, für das eigene Wohlbefinden, aber auch jenes des Gegenübers, Dankbarkeit offen zu zeigen. In den letzten Jahren wurde mir bewusst, wie dankbar mein Opi gegenüber dem Leben nach dem Holocaust war. Jeden Morgen nahm er sich die Zeit, um am Fenster des Kinderzimmers meiner Mutter den Zürichsee zu bestaunen und sich seines Lebenswerkes (Ehefrau, 3 Kinder, 7 Enkelkinder) im eigenen Haus zu erfreuen. Es berührte ihn jedes Mal aufs Neue, wenn meine Schwester oder ich in den Armen unserer Mutter lagen und er scheute sich nicht uns zu sagen: « Seid froh, eine Mutter zu haben. » Heute, wo ich andere Grossväter mit ihren Enkeln sehe, denke ich mir innerlich « Seid froh, euren Grossvater noch zu haben, denn wenn er weg ist, dann wünscht ihr ihn euch sehnlichst zurück ». Ich vermisse seine Begrüssung (« Hoi Laritschka, Menschele liebes ») mit einem Küsschen auf die Stirn und Nase, wenn ich durch die Tür komme, sein Witzerzählen und Lachen, sein genussvolles Verschlingen von Pasta Aglio Olio und einfach sein Dasein.

In diesem Sinne, möchte ich, in seinem und meinem Namen, Dankbarkeit gegenüber all den Menschen aussprechen, die ihn und alle anderen Häftlinge der Konzentrationslager befreit haben, sowie gegenüber all jenen, die heute dafür einstehen, dass eine solche Grausamkeit nie wieder geschieht. Dir meinem Opi, danke ich für die Kindheit und Jugend, die wir an deiner Seite verbringen durften, und die Weisheit und Inspiration, die du uns Enkelkinder (und Tausenden anderen Menschen) weitergegeben hast.

 

In Liebe,

Deine Laritschka

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